Tag +38
Meine kleine Welt
Nirgends ist es mir stärker aufgefallen als jetzt und hier in diesem begrenzten Raum, den ich jeweils nur für wenige Minuten oder Stunden verlasse, um in anderen Teilen der Klinik untersucht oder behandelt zu werden. MRT, CT, SONOGRAPHIE.
Nirgends ist die kleine Welt bunter als hier. Da ist Mathilda, die temperamentvolle Sizilianerin mit dem schönen lockigen Haar, fröhlich und tröstlich. Eine Süditalienerin mit deutschem Ehemann, der Koch ist und wundervolle Tomatensaucen kocht. Mathilda putzt zweimal täglich mein Zimmer, manchmal auch am Wochenende. Immer, aber wirklich immer, wenn sie mein Zimmer betritt, spürt sie ob es mir gut geht oder nicht. An guten Tagen bringt sie mich mit ihren Familiengeschichten zum Lachen, an schlechten ist sie still und drückt meinen Fuß wenn sie das Zimmer verlässt... "Ciao Bella, a domani".
Kommt Mathilda nicht und genießt ihren freien Tag, dann ist Naomi da, eine schmale zierliche Thai- Frau mit intellektueller, schwarz geränderter Brille. Naomi ist ein Buddha aufgefallen, der meinen ganz persönlichen Schrein hier ziert. Dieser "Schrein" ist eine weiße Magnettafel, voll gepackt mit all den Glücksbringern, die mir meine Freunde geschenkt haben. Unter anderem mit jenem Mini-Buddha, von dem sie sagt, er sei sehr besonders und man müsse nach ihm suchen, den gäbe es nicht überall. Naomi ist verheiratet mit einem Deutschen und sie legt Wert darauf, dass sie nicht "aus dem Katalog" ist. Zehn Jahre war sie mit ihrem Mann zusammen, dann hat sie sich getrennt. “Nicht, weil ich ihn nicht mehr geliebt habe, ich wollte einfach nur etwas Eigenes haben und machen. Ich war eine erwachsene Frau und ich wusste nichts von der Welt, ich hatte nichts gelernt, war nie alleine einkaufen, ich wollte Autofahren lernen. Er hat mir das alles abgenommen, er wollte mich beschützen, aber ich wollte erwachsen werden." Also nahm sie all ihren Mut zusammen, meldete sich zu einem Sprachkurs an, fuhr zum ersten Mal alleine nach Frankfurt zum Konsulat, um ihre Papiere in Ordnung zu bringen, suchte eine Wohnung, einen Job, meldete sich danach in der Fahrschule an!
Und ja: sie hat alles geschafft, was sie sich vorgenommen hat, ist glücklich in ihrer kleinen Wohnung, hat ein kleines Auto, ihre Arbeit, neue Freunde, liebt die Düsseldorfer Kirmes... Sie sagt, sie braucht nicht viel und sie sei froh, unabhängig zu sein. Mit ihrem Mann trifft sie sich gelegentlich zum Essen, sie sind Freunde geblieben.
Ich bin nicht mobil, ziemlich schwach und wackelig unterwegs, in die Radiologie oder andere Kliniken werde ich mit dem klinik-eigenen Transport gebracht. Wenn man so viele Wochen hier ist wie ich das jetzt schon bin, kennt man die meisten Fahrer und Fahrerinnen. Die jungen Männer sind Türken, Algerier, Tunesier, Marokkaner und könnten meine Söhne sein.
Zum Ende des Fastenmonats Ramadan haben sich die Moslems in der Klinik mit dem traditionellen "al-hamdulillah" begrüßt. Spätestens beim zweiten Transport begrüßen wir uns wie alte Freunde und ich bin froh, so behutsam und respektvoll entweder mit dem Rollstuhl und an ganz schlechten Tagen mit der Trage von hier nach da und dort gebracht zu werden.
Immer muss ich dann eines meiner vielen selbst gemachten Chemomützchen tragen, Sonne ist in Zukunft Gift für mich. Karim und Mahmud haben mich schon oft gefahren und Karim sagte eines Tages "Weißt du Frau Bea, wenn Du noch ein bisschen hier bist, möchte ich auch so eine Mütze haben". Die habe ich ihm versprochen, und wenn ich sie auch nicht hier gefrickelt habe, so ist sie doch von mir und sie ist weiß. Letzte Woche habe ich sie ihm gegeben, auf dem Weg zu meiner HWS-Punktion. Und was passiert? Der kleine zierliche Mann fängt an zu weinen und sagt zu Mahmud, der solle vorfahren, er würde mich im Rolli in die Radiologie bringen. Spricht es und fährt mich durch die frische Luft vorbei an vielen Menschen in das entsprechende Gebäude, bedankt sich dabei überschwänglich und sagt "Frau Bea, ich wünsche Du wirst gesund, ich bete in der Moschee für Dich".
Mahmud ist Türke, knapp über 20 und hat wohl die hellsten grünen Augen die ich jemals gesehen habe. Vorgestern haben die beiden mich bei über 37° abgeholt und mich zu zweit durch die kühle Tiefgarage in die MNR-Klinik gebracht. Fix und fertig waren sie den ganzen Tag bei Gluthitze in ihrem nicht klimatisierten Transporter unterwegs. Zwei junge freundliche Männer, die sich manche Unverschämtheit gefallen lassen müssen vom stramm deutschen Patienten, der es nicht einmal für
nötig hält, ihren Gruß zu erwidern, wenn sie ihn abholen.
Auch mein kugelrunder kleiner polnischer Physiotherapeut ist unbezahlbar, er darf im Moment nicht mal Hand anlegen, war aber gestern hier, um mich ein wenig zu betüddeln und mir ein paar gute Tipps zur begleitenden Behandlung der noch immer vorhandenen Entzündung im Rücken zu geben. Seit dieser Stunde weiß ich, wirklich ganz neu für mich, dass Retterspitz ein altes homöopathisches Mittel ist, das gerade bei Rückenschmerzen gut helfen soll. Der erste Liter ist schon unterwegs zu mir.
Bleibt noch Olga, die Kroatin, in meinem Alter oder ein bisschen älter, füllt täglich meine Kotzschalen auf, Handtücher und Waschlappen, Desinfektionsmittel, Handschuhe... Und auch sie findet jeden Tag ein paar liebe Worte für mich "Es wird alles gut, dauert bisschen, aber wird gut".
Ohne sie alle würde das Konstrukt "Klinik" zusammenfallen...