Selten nur, eigentlich noch nie, ist ein Jahr so verrückt schnell an mir vorbeigesaust wie dieses 2016.
Es war von der ersten Sekunde an bestimmt von der einen einzigen, zentralen, lebenswichtigen, belastenden Frage: wird es einen Stammzellspender für mich geben? Irgendwo auf der Welt? Eine Frau? Einen Mann? Jemanden, der bereit ist, mir mithilfe seiner Stammzellen oder seines Knochenmarks Leben zu schenken? Mein Leben zurück zu geben?
Es war von der ersten Sekunde an bestimmt von der einen einzigen, zentralen, lebenswichtigen, belastenden Frage: wird es einen Stammzellspender für mich geben? Irgendwo auf der Welt? Eine Frau? Einen Mann? Jemanden, der bereit ist, mir mithilfe seiner Stammzellen oder seines Knochenmarks Leben zu schenken? Mein Leben zurück zu geben?
Alleine kriegt mein kranker Körper das nicht mehr hin. Mein verdammtes Knochenmark macht kein Blut mehr. Punkt.
Keine Chemotherapie der Welt, keine Bestrahlung, kein Glaube an wen oder was auch immer wird mich hier heraus schaffen. Auch nicht Sean Connery als 007 - und der kann immer alles...
Die letzten Stunden des Jahres 2015 verbringe ich zuhause, Peter muss arbeiten, das GoGo bricht aus allen Nähten während ich mich aufgelöst in Tränen an meinem Champagner festhalte und solche Angst habe, so alleine bin, mich nie einsamer gefühlt habe.
Ich schreibe hin: wo bin ich in einem Jahr?
Die Wochen ziehen ins Land, der Winter ist mild, ich bin regelmäßig bei meinen Ärzten, alles muss hübsch beobachtet werden, kontrolliert, protokolliert.
4. Februar 2016. 11.00h - "Wir haben einen Spender".
Ich bin im Labor, es ist Altweiberfastnacht, beinahe falle ich in Ohnmacht, zitter' am ganzen Leib als hätte ich Schüttelfrost, weine, lache, Tusche läuft quer durch mein Gesicht.
Ein Spender. Ein Stammzellspender. Hoffnung. Ich darf leben, vielleicht.
4 Tage später in der KMT, beim Helden meiner Gesundheit, Krankheit, meiner Myelofibrose. Nichts, was ich nicht schon wüsste, aber JETZT ist es ganz konkrete Planung. Ich habe entschieden, dass ich mich im kommenden Herbst/Winter transplantieren lassen will, ich möchte einen wunderbaren, leichten Sommer verbringen, mit meinem Mann, meiner Familie, Grillen mit Freunden. Sage zu meinem Arzt: ich gehe nicht im Sommer in die Isolation. Und ernte einen fast mitleidigen, schrägen Blick und ein leichtes Kopfschütteln. "Auf keinen Fall! Wir sind nicht so weit gekommen und riskieren dann ohne Not schwere Infektionen, wenn wir Sie im Winter entlassen müssten in all das Gewimmel von Grippe-, Noro- und Rotaviren. Und Zeit bis zum nächsten Jahr - die haben wir nicht!"
Wir vereinbaren: Aufnahme in die Klinik am 6.6., ab 7.6. beginnt eine Woche "Konditionierung", also die Vorbereitung auf die Stammzelltransplantation mit Hochdosischemotherapie und evtl. Bestrahlung, ob die notwendig ist, wird sich später entscheiden. Am 14.06.2016 soll ich transplantiert werden, K. sperrt meine Spenderin online noch in meinem Beisein für mich, jetzt läuft der Countdown. Ich erfahre erste Einzelheiten, die eigentlich noch strenge Verschlusssache sind. Drei Frauen wären für mich in Frage gekommen, die von ihm ausgewählte hat sogar meine Blutgruppe, 0 positiv, ist genau so groß wie ich, hat nahezu das gleiche Gewicht, keine Kinder geboren, ist ein paar Jahre jünger als ich und CMV-frei. Viele Informationen für die ich dankbar bin, kann ich mir doch so wenigstens ein kleines Bild machen. Fast euphorisch fahre ich nach Hause. Ich habe einen Termin! Es geht los! Nicht sofort, aber doch bald.
Alles steht ab sofort im Fokus der Vorbereitung auf "Meine Stammzelltransplantation". Wochen und Monate vergehen, es ist so vieles vorzubereiten, von all den Untersuchungen mal ganz abgesehen. Ich lese viel, weiß deshalb, dass auch meine Spenderin jetzt vorbereitet wird, untersucht und gecheckt und wieder gegengecheckt.
Ich gönne mir eine Auszeit, Zeit für mich alleine, fahre im Mai an die Nordsee. Gebe mich Sonne und dem Wind hin und nehme Abschied von meinem alten Leben. Selbst wenn alles ganz und gar wunderbar laufen sollte - es wird nie mehr sein, wie es einmal war. Ich werde nie mehr sein, wie ich jetzt noch bin. Meine Freundin kommt mich überraschend für einen Tag besuchen, Stunden am Strand mit Bier und Backfisch, feinstem Abendessen und abschließendem Weißwein auf der Terrasse. Zwischendurch muss ich weinen, manchmal werde ich jetzt, so kurz vorher, von meiner eigenen Courage überholt, liege nachts wach. Frage mich, ob meine Entscheidung richtig ist. Den endgültigen Ausschlag wird nur drei Tage vor meiner Aufnahme ein allerletztes Gespräch mit meiner Haus- und Hofhämatologin geben, dort muss ich die Einweisung in die Klinik abholen. Noch einmal nimmt sie sich Zeit: "Alternativlos!"
Wie verrückt muss ich sein, die ganze Kontrolle abzugeben, mich derart preiszugeben? Auf nichts mehr Einfluss zu haben. Ich werde in die Klinik spazieren und mich ausliefern. Wie froh bin ich, dass ich von der ersten Sekunde an solches Vertrauen zu meinem Arzt habe. Wie dankbar muss ich sein, dass ich dazu in der Lage bin. Wie dankbar müssen Patienten sein, solche Mediziner zu finden, Menschen, die ihnen auch in den allerschlimmsten und unvorstellbarsten Situationen den Mut zurück geben??
Ich hatte dieses Glück. Ich habe es noch immer.
Ja, ich hatte Momente, in denen ich nicht mehr wollte, in denen ich auch nicht mehr konnte. Zu schwach war, zu weinen, zu schwach, zur Toilette zu gehen, ja mich im Bett zu drehen. Heute erinnere ich mich an eine der Stationsärztinnen, die meine Hand nahm und sagte, "Frau Kallen, bitte, Sie müssen nur noch aushalten, es ist alles gelaufen, es wird gut, halten Sie durch." Und nächtliche Gespräche mit meinem Pfleger, bei dem ich mich für Geduld und Zuwendung bedanke: "Sie schaffen das! Wir machen unseren Job und sorgen dafür, dass Sie das Tal schaffen. Und jetzt sind Sie die ersten Schritte auf der anderen Seite schon alleine gegangen, machen Sie weiter, geben Sie nicht auf. Wir sind hier und helfen Ihnen." Und sie helfen mir durch alles, halten meinen Kopf, während ich nahezu pausenlos kotze, obwohl ich seit Wochen nichts gegessen habe. Wechseln klaglos und rund um die Uhr Wäsche, streicheln meine runzlige schuppige Haut, schenken mir Fürsorge und auch Mitleid. Wie dankbar bin ich. 10 Wochen und 4 Tage, 74 Tage in meinem kleinen Zimmer - behütet auch von meiner Familie, im Gesicht meiner Mutter lese ich ihre unvorstellbare Not und ihre Angst. Es quält mich, sie so zu sehen und ich bin froh, dass sie einige Tage verreisen wird. Meine Cousine wird Wochen später zu mir sagen, er war ganz nah, der Sensenmann... und ja, so war das. Mein Mann hält es kaum aus, mich so schwach zu erleben, verwöhnt mich mit Leckereien, die ich dann nicht vertrage, mein Kind cremt und schmiert meine kaputte Haut, mein Bruder hat ein fast unheimliches Gespür für die ganz und gar verzweifelten Momente und coacht mich, manchmal täglich. Redet auch spätabends beruhigend und Mut machend auf mich ein. Freundin Karin und meine Schwägerin bringen mich zum Lachen, auch wenn ich mich kaum halten kann. Brigitte hat Angst um mich, Nicole, mein Löwenmädchen, sitzt stundenlang an meinem Bett und hält meine Hand.
Ende Juli habe ich Geburtstag, unvorstellbare Tausende von Glückwünschen gehen auf allen Kanälen ein, persönliche Nachrichten von mir wildfremden Menschen, Reaktionen auf dem Blog, emails, SMS, Anrufe. Ich bin schon mittags völlig überfordert, erste fette Tränen fließen als mein Chef mit allen Kollegen vor meinem Fenster steht. Ich verhülle mich und schleppe mich nach draußen, eine halbe Stunde sitzen wir zusammen auf der Terrasse, Gluthitze herrscht, ich bin völlig erledigt, als ich zurück in mein Bett krabbel. Nachmittags ist die ganze Familie da, mein Mann, alle zusammen, wieder muss ich heulen. Abends dann meine "Mädels" vom Stammtisch. Ich bin so glücklich, aber auch so klapprig und schaffe es nur mit Brigittes Hilfe zurück in mein Zimmer.
Irgendwann wird es alles vorbei sein, sagen sie. Von jetzt auf gleich wird alles aufhören, die Schmerzen, die Übelkeit, die Angst, es nicht zu schaffen. Bei mir ist es ein Donnerstag, ich sage zu meiner Mutter, dass ich Gurkensalat möchte, so wie ich es im Moment darf: kein Pfeffer, nur ein bisschen saure Sahne, Salz, Senf, Zitrone. Alles schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Gurkensalat! Völlig unmöglich. Und doch: ich bekomme mein Wunschessen und genieße ganz vorsichtig jeden Bissen, Mama sitzt mit Tränen in den Augen vor mir. Und ich behalte es bei mir. Von da an kann ich wieder essen. Von jetzt auf gleich. Als nächstes gibt es Kartoffelpüree mit braunen Zwiebeln, dann Kartoffelsalat - ich lerne, Tee zu löffeln, dann zu trinken. Sage montags zu meinen Ärzten: am Freitag will ich nach Hause! "Guter Plan, Frau K.!" Und es gelingt! Nur eine Woche nachdem ich den ersten Bissen feste Nahrung zu mir genommen habe, holt mich die beste aller Schwägerinnen ab. Es ist der 19. August 2016.
Seitdem haben mich viele kleine und große Rückschläge erwischt, aber ich habe auch ganz viele, vor allem kleine Schritte nach vorne gemacht. Ich beobachte mich, ich achte auf mich, mache nur und ganz ausschließlich Dinge, die mich beglücken. Ich genieße die Stunden zuhause, wenn ich nicht gerade an Bett oder Sofa getackert bin, manchmal - an richtig guten Tagen - schenke ich mir kleine Aufenthalte im heiß geliebten Café à GoGo. Die Wärme, die mir dort von all den großartigen Gästen entgegen gebracht wird, hilft mir, mich mit meinem so ganz anderen, zurückgezogenen Leben anzufreunden. Es fällt mir schwer, auf all diese realen Kontakte zu verzichten. Ich kommuniziere fast ausschließlich über Social Media und WhatsApp, echte Treffen sind aufgrund meines so retardierten Immunsystems nur selten möglich.
Jede Woche muss ich in die Uniklinik, immer bin ich vorher unruhig und auch ängstlich. Wie werden meine Blutwerte sein? Kommt mein Knochenmark endlich in Gang oder sind die so dringend notwendigen Leukozyten wieder zurück gegangen? Brauche ich Transfusionen oder mehr Kortison, schaffe ich es, diese Woche mit weniger Morphium klarzukommen? Der für mich größte Erfolg: ich schaffe es, mich alleine in einen stabilen Zustand zu bringen, zu essen, zu trinken. Nicht immer gleich gut, bisher habe ich weit über 20 kg abgenommen. Es schadet mir nicht, meine Figur ist wie vor 10 Jahren. Die Haut hat sehr gelitten, klar, Chemotherapie und eine schwere Abstossungsreaktion haben sichtbare Folgen. Ich schmiere und bade, gebe ein Vermögen für gutes Material aus. Es ist mir egal, ich danke mir selber jeden Cent, mein Mann bestärkt mich in meiner Haltung.
Durch die dünn gewordene Haut meines Dekolletes schimmert dunkellila der Port, ein metallisch glänzender Zugang in aberwitziger Farbe, quasi passend zur Narbe an meinem Hals, dort, wo der ZVK über Monate steckte... Diese Narben sind verblasst, so wie die Eintrittsstellen des Flash-CT, die Einschnitte zu den Knochenmarksbiopsien in meinen Beckenknochen.
Vernarbt sind auch die Wunden, die Angst und Schmerzen verursacht haben. Nicht alle, aber doch viele. Ich denke nicht mehr dauernd daran, gestatte mir Gedanken an die Angst vor dem Sterben nicht. Du hattest Angst vor dem Sterben? Ja... schon. Nicht vor dem Tod, vor dem Sterben. Oder doch - natürlich hatte ich auch Angst vor dem Tod. Ich bin 56...
In zwei Tagen ist es sechs Monate her, dass ich mit meiner Tasche und einem Dutzend Bücher auf Station ME.10 gezogen bin, mich dort eingerichtet habe.
Noch eine weitere Woche, dann sind sechs Monate seit der Transplantation vergangen. Die ersten so wichtigen 180 Tage, ganz genau 183, habe ich dann geschafft! Bis jetzt überlebt, nicht selbstverständlich bei einer Chance von 50:50.
Es ist so unvorstellbar viel passiert in dieser Zeit - Patienten, die zur gleichen Zeit transplantiert wurden, geht es besser oder schlechter, andere sind verstorben, das berührt mich sehr, immer, auch wenn ich bis auf eine Mitpatientin aus dem UKD niemanden persönlich kenne oder kannte. Man rückt zusammen, wenn man eine solche Geschichte hat. Marina Klinkens, Dir sei hier mal ausdrücklich gedankt, es war großartig, dass Du mich besucht hast und es ist noch heute ein tolles Gefühl, wenn wir uns in der Ambulanz treffen. Ich drück Dich!
Fazit also für 2016 - tiefste Dankbarkeit, auch Demut, das Wissen, dass unser Leben ein fragiles Pflänzchen ist, das behütet sein will. Das Wissen, dass wir mehr aushalten und ertragen können als wir gemeinhin selbst für möglich halten. Das Wissen, nichts ist selbstverständlich.
Und bei aller Angst und Not und all dem, was mich so beschäftigt, beschäftigte und einschränkt: es gibt so viele Menschen, Millionen, denen es unglaublich viel schlechter geht als mir.
Euch allen, grossen, kleinen, dicken, dünnen, lustigen, kritischen, klugen, charmanten, bissigen, musikbesessenen, fußballbegeisterten, kochwütigen, sich-um-die Eltern-kümmernden, die-kinder-beschützenden Fremden und Freunden - Euch allen von Herzen eine schöne, besinnliche Advents- und Weihnachtszeit und einen grandiosen Rutsch in ein sensationelles, glückliches, erfolgreiches und vor allem gesundes Jahr 2017!!!!
Prost, Cheers, Salute, Şerefe, Salud, Yamas, živjeli ...
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