Freitag, 27. Juli 2018 - in Düsseldorf zeigt das Thermometer an diesem Tag auch abends um 18.30h noch unglaubliche 37 Grad.
Meine Freundin ruft mich an, sie wird mich auf dem wichtigsten Weg der letzten siebenhundertdreiundsiebzig Tage begleiten - "Ich sitze im Höfchen", sagt sie. Es ist noch ein kleines bißchen zu früh, ich gieße uns einen Schluck Rosé in einen kalten Metallbecher, schnappe eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und laufe die Treppe hinunter, nicht so einfach mit hohen Hacken, die ich in den letzten Jahren nicht mehr getragen habe. Wir nehmen uns in den Arm: "Bist Du nervös?" fragt sie. Ja. Ich bin.
Heute endlich werde ich meine Stammzellspenderin treffen. Zwei Jahre und 43 Tage habe ich auf diesen Tag gewartet, oft gedacht, ich werde ihn nicht erleben. Es ist schwer, zu beschreiben, was in mir vorgeht. Ich bin aufgewühlt, ich hoffe, dass sie mich mag, ich weiß, dass ich sie mögen werde. Ich habe Angst, zusammenzuklappen, mitten auf dem Bahnsteig. Inmitten all der Menschen, die in all den verspäteten Zügen an diesem heißen Abend unterwegs sind.
Wir laufen los. U-Bahn zum Hauptbahnhof, inzwischen weiß ich, dass Pia mit etwa 30 Minuten Verspätung ankommt. Wir schreiben uns seit dem Morgen ununterbrochen WhatsApp-Nachrichten, beide haben wir uns diesen Tag frei genommen. Beide wollten wir uns - unabhängig voneinander - in Ruhe auf dieses Treffen vorbereiten.
Und so lachen wir via Handy miteinander über typischen Mädelskram wie "Was ziehe ich an?" Schuhe? Tasche? Was machen wir morgen? Übermorgen?
Dann endlich schreibt sie "Ich sitze im Zug! Meinen reservierten Platz gibt es nicht, auch keine Klimaanlage! Ich MUSS duschen, wenn ich ankomme!"
Karin passt auf mich auf, lenkt mich ab, kauft nochmal Kaltgetränke, ich sage zum wohl hundertsten Mal, dass sie auf jeden Fall Fotos machen muss. Bloß nicht vergessen.
"Wir stehen auf freier Strecke!" - Damit rechne ich seit Stunden. Die Bahn und Sommer in Deutschland, in der Regel geht das schief, wie ich aus leidvoller Erfahrung weiß.
Dann ein Anruf. Pia... ich sehe sie irgendwo in NRW in trockenem Gebüsch stehen, mein Herz rast. Tatsächlich soll sie zusammen mit den anderen Passagieren den IC in Essen verlassen und mit einem Regio Richtung Aachen weiterfahren. Klimatisiert, immerhin. Die verspätete Ankunftszeit bleibt. Der Bahnsteig wird immer voller. Hunderte Menschen warten, ungeduldig, gereizt, aggressiv. Nur wenige sind entspannt. Ich zähle definitiv nicht dazu.
Der Zug fährt ein, ich stehe am Bahnsteigrand und versuche, in jedes Fenster, jede Tür zu blicken. Keine Chance. Zu schnell. Zu viele Leute, zu viel Gedränge.
Raus und rein geht es, ich klammere mich an meinen Fächer, halte die Hände vor mein Gesicht. Wo ist sie bloß? Ist das der richtige Zug? Das richtige Gleis? Der Bahnsteig leert sich. Und da - ich sehe sie, ganz vom Ende des roten Ungetüms kommt sie auf mich zu. Ich erkenne das beschriebene Kleid und renne los, schubse, drängle, quetsche mich zwischen erschrockenen Menschen durch, entschuldige mich im Lauf.
Und dann haben wir uns im Arm, ich muss heulen, sie hält mich fest. "Alles ist gut!" Karin kommt, sie hat fotografiert und muss auch ein bißchen schlucken. Endlich.
Ja. Alles ist gut. Wir "kennen" uns aus unseren vielen Briefen und Karten, wir haben uns Vieles erzählt, aber jetzt ist sie da. Wirklich und wahrhaftig. Eine schöne, fröhliche und witzige Frau. Zwölf Jahre jünger als ich und sieht aus wie Mitte 20. Unglaublich. Ich mag ihre Stimme. Ihr Lachen. Wir reden ohne Unterbrechung.
Es folgt ein Abendessen mit meiner engsten Familie. Gespräche eine halbe Nacht lang. Ein Frühstück in aller Herrgottsfrühe, bloß keine Minute der kostbaren Zeit verplempern. Wir fahren und laufen durch die Stadt, reden ohne Unterlass. Keine Pause. Ein Glas Champagner in einer der schönsten Bars der Stadt. Ein Mittagessen. Ein bißchen Pause.
Und dann ein großes Fest mit den liebsten Freunden und allen, die mich begleitet haben in den letzten Jahren. Musik. Gespräche. Freudentränen. Emotionen pur. Der Abend wird lang, die Nacht ist kurz.
Wir feiern uns. Wir feiern das Leben. Wir feiern, dass wir uns so sehr mögen. Wir feiern mein Überleben.
Am nächsten Tag bringe ich sie mit meinem Bruder zum Bahnhof. Ich muss weinen, als der Zug aus dem Bahnhof rollt.
Ich habe eine kleine, erwachsene Schwester bekommen. "Gute Nacht, große Schwester in Düsseldorf."
Wir sehen uns wieder, ganz bald.