„Stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme“ - das lerne ich zuerst - ist der neue Begriff für die heimelige Kur. Klingt besser als das schöne alte Wort, meint aber ein und dasselbe.
Einigermaßen gespannt halte ich nach nur wenige Tage nach Antragstellung einen in jeder Hinsicht gewichtigen Brief in der Hand, dick prangt auf der ersten von 23 Seiten „BESCHEID“, mittig gesetzt - und darunter das viel wichtigere „Bewilligung“.
4 Wochen werde ich weg sein, nicht einmal das Bundesland verlassen, dabei habe ich klammheimlich mit den Bergen oder der See geliebäugelt. Von Düsseldorf verschlägt es mich nach Ostwestfalen-Lippe, genauer nach Löhne, aber eigentlich reise ich nach Bad Oeynhausen, wie ich neugieriger Mensch nach ein paar Blicken in Google Maps weiß. Inmitten einer wirklich riesigen Kuranlage mit vielen Kliniken, die sich den verschiedensten Fachrichtungen verschrieben haben, liegt die offenbar einigermaßen bekannte und auch beliebte Klinik, die der Kostenträger für meine Rehabilitationsmaßnahme ausgesucht hat. Logisch: alles will ich wissen, leider findet man auf der etwas altertümlichen und eher unspektakulären Webseite jedoch kaum Fotos und auch nur sehr allgemeine Erläuterungen.
Vorsichtshalber schicke ich sogleich eine Mail mit dem Inhalt, dass ich zwar gerne möglichst flott anfangen mag mit meiner Reha - aber erst mal gar nicht kann. Zuviel ist noch zu erledigen, auch ein großes Hochzeitsfest zu organisieren, 1000 Dinge für die Zeit meiner Abwesenheit vorzubereiten. Ein paar Tage später werde ich - schon in Löhne/Bad Oeynhausen - gleich mit der Nase in den Dreck gestupst: „NEIN“sagen heißt mein neues Mantra…
Aber dann, Abreisetag, seit gestern Abend warnt der Deutsche Wetterdienst vor größerem Sturm in NRW. Sturm? Kennen wir hier, ELA hieß die Dame, die im letzten Juni unsere Stadt verwüstet hat. So schlimm wird’s wohl nicht kommen. Mein Zug geht um kurz vor 8, mein Handy-Ticket und vorsichtshalber auch gleich die Sitzplatzreservierung habe ich online gebucht und ausgedruckt. Um 5 stehe ich auf, die restlichen Klamotten werden in den Koffer geschmissen - nee, ich lasse mein Gepäck nicht abholen, ich steige in Düsseldorf ein und in Oeynhausen wieder aus, was soll schon sein, das krieg ich hin. 2 große Koffer, eine große Handtasche und noch eine weitere große Tasche wollen mit auf die Reise…
6.18h: SMS der Deutschen Bahn - mein Zug ist GECANCELT. Nicht Ela, diesmal heißt das Miststück Niclas und wird im Laufe des Tages die Republik lahmlegen, leider fängt er in NRW damit an. Nach einem kurzen Schreck schnappe ich mein Zeug, fahre mit dem Taxi zum Bahnhof - mittlerweile ist es kurz nach 7 und am HBF herrscht bereits mittleres Chaos. Ich stelle mich an den nächsten mobilen INFO-Schalter, bin die 6. in der Reihe und ahne nicht, dass es jetzt erst richtig los geht. Nach kurzem Blick auf das Ticket bedauerndes Schulterzucken des überaus freundlichen jungen Bahnmitarbeiters: „…am besten lassen Sie das Ticket stornieren, umbuchen ist viel zu teuer, die Strecke Düsseldorf- Duisburg ist gesperrt, die Züge aus Köln kommen auch nicht an, keiner weiß, wie lange… usw.usf.“
Ich „renne“ mit meinem großzügig bemessenen Gepäck ins Reisezentrum, muss eine Nummer ziehen und sehe: es sind nur etwa 10 Leute, die vor mir Hilfe brauchen. Dann, endlich, bin ich an der Reihe und sage artig, dass ich mein Ticket gerne stornieren würde, weil… „Ach Quatsch, das schreibe ich Ihnen um, Sie können doch nichts dafür…“ Spricht’s, schreibt: „…gültig auch für IC, ICE wegen Zugausfall“, stempelt und unterschreibt und gibt mir meine Fahrausweise zurück, zusammen mit einem weiteren Ausdruck und den Worten: in 9 Minuten fährt an Gleis 18 (!!!!) Ihr Zug - ich befinde mich weit vor Gleis 1 in der Eingangshalle des Bahnhof. Mittlerweile stehen Hunderte von Bahnreisenden vor großen Anzeigetafeln und warten auf neue Info. Da muss ich durch… GLEIS 18!! Himmel.
Keine Zeit, in den Nordtunnel zu hasten und den Aufzug zu nehmen. Also quer durch das Gewimmel und die zunehmende Aggressivität ab auf die Rolltreppe, die ich beinahe rücklings hinunter gefallen wäre, hätte mich nicht ein netter Herr einfach mit beiden Händen am Hintern gestützt. „Ich helfe Ihnen, bleiben Sie ruhig.“ Ein Koffer vorne, einer hinten, wo sind die Taschen? Als ich oben ankomme, bin ich nass geschwitzt, stammle ein schnelles und verlegenes „Danke“ in Richtung meines Helfers. Der Zug steht mit offenen Türen da, ich hieve mein Zeug hinein, gehe direkt rechts in ein kleines Abteil, dort sitzt eine entnervte Japanerin. Kurzer Gruß, sie sagt mir, dass sie total sauer ist, eigentlich hätte sie nach Amsterdam fliegen sollen und jetzt sitze sie in dem blöden Zug und käme nicht weg. Ich reagiere gar nicht. Dann: AMSTERDAM???? Ich bin im falschen Zug.
Würge mir meinen Schal wieder um den Hals, schnappe mein Zeug und springe mit ihrer Unterstützung und dem ganzen Sch…. wieder auf den Bahnsteig.
In diesem Moment erfahre ich via Lautsprecheransage, dass mein IC nach Berlin via Hamm auf Gleis 9 abfährt… in 5 Minuten, offiziell. Diesmal ist es mir egal, ich nehme den Aufzug nach unten, ein paar Gleise weiter den nach oben, hole dreimal tief Luft und schaffe es rechtzeitig in den richtigen Zug. Der ist brechend voll. Nichts geht mehr in Düsseldorf, nicht in Duisburg, nirgends… eine Dreiviertelstunde später rollt der IC an und über eine Nebenstrecke binnen einer knappen Stunde nach Duisburg - normalerweise dauert das zehn Minuten. Offenbar ist es der letzte Zug, der Düsseldorf verlassen hat und sich nun allmählich in Richtung Berlin bewegt.
Das Zugpersonal ist überaus zuvorkommend und freundlich, hilft und gibt Auskunft, wo es Auskünfte gibt, eigentlich weiß aber niemand nichts. Eine kugelrunde Mitarbeiterin ruft auf jedem Bahnsteig laut, „steigen Sie ein, wir nehmen Sie mit, Richtung Berlin? Richtung Hamm, steigen Sie ein.“ Alle sind darum bemüht, die Reisenden einzusammeln, Abfahrten werden noch einmal um 1 oder 2 Minuten verschoben - was soll’s, wir sind eh’ eine Stunde zu spät. Jeder bleibt ruhig, die meisten nehmen es mit Humor, die Stimmung an Bord ist gut, die Fahrgäste sind beeindruckt von der Souveränität der Zugbegleiter. Die beantworten gelassen alle Fragen, wenn auch oft mit den Worten: „…wir wissen es nicht, wir bemühen uns aber um Info und geben Ihnen gleich Bescheid.“ Dazu immer wieder neue Durchsagen via Lautsprecher. Zu irgendeinem Anschluss in Hamm kann mir niemand etwas sagen, wie auch, mittlerweile fährt nichts mehr, aber das erfahre ich erst später.-
Sehr viel später, Hamm/Westfalen, mit zwei Koffern und dem anderen Mist stehe ich auf dem Bahnsteig und halte Ausschau nach einem freundlichen Menschen, der mir sagt, wann und wie ich weiterfahren kann, erfahre aber nur: „am besten gehen Sie nach unten und fragen da, wir wissen wirklich nichts.“
Ok, also…wieder einmal mache ich mich mit meinem Gepäck auf den Weg nach unten ins Reisezentrum. Dort herrscht Hochbetrieb. Nach knapp 15 Minuten bin ich an der Reihe. Es fährt noch ein einziger Zug, der wurde in Dortmund eingesetzt und ist… in 5 Minuten hier. Ich mag nicht mehr, wirklich nicht, und renne doch so schnell ich kann mit meinem Krempel quer durch den Bahnhof, rempel hier und stoße da Menschen an. Flüster' Entschuldigungen und bin den Tränen nah… Der Regio naht, glücklicherweise hilft mir eine Gruppe junger Schülerinnen beim Einsteigen und Verladen… Ich suche mir einen Sitzplatz, natürlich direkt an der Toilettentür, woanders finde ich keine Stelle für mein Zeug, und rufe zum 2. Mal an diesem Tag in der Klinik an, mittlerweile jedoch mit einer wenigstens ungefähren Ankunftszeit in Bad Oeynhausen.
2 Stunden später schließe ich mein Zimmer auf, im 3. Stock des Nebengebäudes (wie froh ich darüber noch sein werde) und freue mich über einen weiten Blick auf’s Weserbergland und den schönen, noch blattlosen Garten, genieße später einen starken Espresso und bin froh, endlich hier zu sein.
Aber du bist angekommen, das wäre dir in den kommenden Tagen womöglich nicht gelungen...
AntwortenLöschenDiese "Anreise" liegt schon ein Weilchen zurück. Aber in der Tat bin ich früher nach Hause gekommen als geplant, um nicht irgendwo zu stranden... :-)
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