Mitte August finde ich mich zum üblichen, alle 6 Wochen stattfindenden Kontrolltermin bei meiner Hämatologin ein.
Drei Jahre nach der Diagnose ist das alles Routine, von der Rezeption begebe ich mich meist direkt ins Labor, es werden ein paar Röhrchen Blut abgezapft. Ein Teil wandert sofort ins Zählgerät, dessen Klackern ich in den nächsten Minuten wie immer mit großer Gelassenheit und lesend verfolge.
Ich erwarte meine Ärztin - eine Frau zu der ich großes Vertrauen habe. Sie hat enormes Wissen, die notwendige Distanz, hört zu, nimmt mich ernst und gibt Rat - neben dem immer gleichen Ritual und dem ersten Blick auf die Werte. Diesmal jedoch steht nach der Besprechung der aktuellen Blutwerte eine Ultraschalluntersuchung meiner Milz an. Myeloproliferative Erkrankungen wie die bei mir im Jahr 2012 diagnostizierte Essentielle Thrombozythämie führen im Verlauf gelegentlich zu einer Vergrößerung der Milz, gegebenenfalls auch der Leber. Noch immer bin ich nicht beunruhigt. Zwar bin ich seit Monaten zunehmend erschöpft, geradezu TODmüde und finde auf der anderen Seite keinen Schlaf. Bin unkonzentriert, muss alles aufschreiben, habe Kopfweh, Sehstörungen. Schwitze des Nachts und muss mich oft mehrfach umziehen, kratze mich blutig.
Vor allem die Müdigkeit und auch nachlassende Leistungsfähigkeit schiebe ich auf meinen anstrengenden, jedoch absolut wunderbaren neuen Job. Seit Mitte Mai, genau drei Monate bin ich nun angestellt für das Office eines Dentallabors unter der Leitung eines ziemlich großartigen Chefs. Ich bin daran gekommen wie die Jungfrau ans Kind. Habe null Vorkenntnisse, wühle mich täglich durch Leistungsziffern, zahntechnische Begriffe, Qualitätsnachweise, beantwortete Dutzende Telefonate, vereinbare Termine, checke emails, vertröste, verbinde, ordere Kuriere.
Habe Angst, all dem nicht gerecht zu werden. Träume nachts vom Labor und den nächsten zu schreibenden Rechnungen.
Nun also der Ultraschall, ich sehe sofort das Stirnrunzeln, als meine Ärztin mit dem Schallkopf meinen Bauch abtastet. Etwas später steht fest: meine Milz ist auf 17 cm angewachsen, viel zu groß also. Dazu die Äußerung “gefällt mir gar nicht“ und ein gemurmeltes "Osteomyelofibrose". Da ist es, das Horrorwort und ich spüre buchstäblich sofort, dass mein Leben sich JETZT ändert, dramatisch.-
Klarheit wird jedoch nur eine erneute Knochenmarksbiopsie bringen, eine Woche später bin ich sehr früh in der Praxis, werde um 8:40 Uhr in eine kurze, tiefe Vollnarkose versetzt und kann ein paar Stunden später nach Hause gehen. Mein Mann holt mich ab, ich bin sehr benommen, habe ungewöhnlich starke Schmerzen und gehe daheim sofort ins Bett. Schlafe den ganzen Tag und auch den folgenden, immer nur von kurzen Wachphasen unterbrochen, in denen ich alles checke, was ich an Info zum Verlauf der ET und der Myelofibrose in die Finger bekomme.
Ich weiß (!!!), dass es mich erwischt hat, die Symptome sind eindeutig, der Verlauf auch. Ich telefoniere mit meinem Bruder, frage ihn, ob er sich als Knochenmark- bzw. Stammzellspender zur Verfügung stellt, wenn... -
Zwei Wochen muss ich warten, eine unvorstellbar lange Zeit. Ich werde immer stiller und unruhiger, muss viel weinen. Lese immer wieder alles, was es an Literatur gibt. Dann, endlich, der Besprechungstermin - jedoch kein Ergebnis, es wurde nicht genügend Präparat gewonnen, ich falle in ein tiefes Loch. Erst in 10 Tagen ist eine 2. Biopsie möglich, dann wieder 14 Tage Wartezeit. Alles in allem hänge ich knapp 7 Wochen in der Luft, befürchte die neue Diagnose. Sie ist eindeutig: Sekundäre Myelofibrose aus ET mit Fibrose 3. Grades.
Ich habe das Gefühl, dass ich in der Zwischenzeit täglich weiter schrumpfe. Mir ist andauernd schlecht, ich habe Durchfall, schlafe kaum, bin jedoch furchtbar erschöpft,wenn ich vom Job komme. Schlaflosigkeit und kurzer komatöser Tiefschlaf im Wechsel, niemand begreift, was in mir vorgeht.
Ich habe Höllenangst, Schmerzen, Wut, ohnmächtige Trauer. "Unheilbar, "potentiell tödlich", "Stammzelltransplantation", 50%, "Hochdosis-Chemo".
Ich denke: ich wollte doch Oma werden. Nochmal reisen, zurück auf meine Insel. Wie soll ich das Mama erklären? Meinem Kind? Täglich fragt mein Chef: "Bist Du ok? Wie geht es Dir?"
Ich falle Stunden und Tage aus, kann mich kaum mehr auf den Beinen halten. Bin empfindlich.
Zwischen 1. und 2. Biopsie: kleines Familientreffen bei uns und mit der Hilfe meines Bruders kann ich meiner Mutter und meiner Tochter sagen, dass es ernst ist. Nicht völlig hoffnungslos, aber sehr ernst.
Abends Telefonat mit meiner Patentante, der Schwester meiner Mama und zum ersten Mal der Satz: "Ich habe Angst, dass Mama mich begraben muss..." Das würde sie nach all dem Erlebten der letzten Jahre und eigener schwerer Krankheit umbringen.
Jetzt:
Vor 2 Monaten habe ich meinem Mann einen Link geschickt, zum Nachlesen, Verstehen. - Zwei Tage nach der Diagnose, vor 9 Tagen also, hat er sich endlich damit beschäftigt, Mut gefasst. Aber soll ich ihm das übelnehmen? Die Angst und Sorge? Nein. Er kann und will sich nicht vorstellen, was passieren könnte. Ich bin traurig - aber ich kann ihn so gut verstehen. Ich sehe seine Not und bin dankbar für sein Bemühen, mir alles schön zu machen.
Seit 1 Woche nehme ich Jakavi, einen so genannten JAK-Inhibitor, der die Aktivität der Januskinasen bremsen und das Freisetzen von noch mehr Entzündungsstoffen verhindern soll.
Kurz: die so erschöpfenden und belastenden Symptome sollen gelindert werden. Das gelingt nur bei 46% der behandelten Patienten. Bei mir sind ganz klar einige sehr heftige Hautveränderungen zurück gegangen, mehr ist bis jetzt nicht zu notieren.
Eine Woche nach Besprechung der neuen Diagnose, erst vorgestern, ein weiteres Gespräch, diesmal mit dem neuen Praxispartner meiner Ärztin. Vor mir sitzt ein Hämatologe und Onkologe, Palliativmediziner mit ziemlich großartiger Vita (ja, ich habe gegoogelt, vorher) und großer Präsenz und sagt: "Sie wissen, dass Sie über Stammzelltransplantation nachdenken MÜSSEN?" "Ja, ich weiß. Ich will!"
5 Minuten später habe ich einen kurzfristigen Termin beim Leiter der entsprechenden Abteilung hier in Düsseldorf, dem renommierten Prof. Dr. K.
Er und mein neuer Doc sind best buddies. Grossartig, besser geht es nicht, 100% Information, kurze Wege. Ich bin so froh. Außerdem: mein türkischer Arzt hat die KMT mit aufgebaut... Was soll schiefgehen?!
Ich bin immer noch müde, mir ist immer noch schlecht, aber ich habe nicht mehr ganz so entsetzliche Schmerzen, geht es ein wenig bergauf?
Nebenbei laufen alle Vorbereitungen: Wäsche für die Klinik liegt parat. In den nächsten Tagen packe ich. Meine aktualisierte Vorsorgevollmacht, eine neue Patientenverfügung und mein Testament sind ge- und unterschrieben und werden in 2 Wochen an die von mir bestimmten Betreuer ausgehändigt, heute habe ich online den Antrag auf Anerkennung einer Schwerbehinderung gestellt.
Bücher sind zurück gelegt, Wolle auch, ich werde stricken ohne Ende. Hoffe ich.
Donnerstag um 9.30h bin ich im UKD zum nächsten Gespräch.
In der Zwischenzeit schreibe ich meine Gedanken und Gefühle auf, beim Flaschen sortieren und Putzen springt mich heute der Gedanke an: ich werde da liegen, wo Papa so lange, so kurz, so... war. Und wieder packt mich die Trauer.
Wo bin ich in 1 Jahr? Was ist Weihnachten? Werde ich das Meer noch einmal sehen? Überlebe ich die vorbereitende Chemo, das Zerstören meines Immunsystems?
Etwas später öffne ich mir ein Bier, sollte ich nicht, ich weiß... aber ich habe solche Lust darauf.
"Das Leben ist schön und findet heute statt!!!"
Jahrzehnte mein Lebensmotto. So soll es bleiben!